22. Juli 2012: Aglona (LT) – Pskov (RUS) – St. Petersburg (RUS)
Tagesetappe: 555 km
Nach dem erholsamen langen Schlaf packten Jonas und Jan das Zelt zusammen, während ich nach einer „Dusch“ fragte. Man zeigte mir den Weg durch das Haus zur Gästedusche. Dazu mußte ich an der Oma in der Küche und den Kindern im Wohnzimmer vorbei, die Prozedur wiederholte sich zwei Mal, bis wir alle wieder frisch waren – die letzte Dusche war schließlich in Brühl. Dann, kurz nach 11, bedankten und verabschiedeten wir uns.
Wir fuhren durch Malta (sic!), kurz später in Rēzekne gab es kühle Getränke und zu Mittag Hot Dogs von der Statoil (einfach die beste Adresse dafür!). Dann standen schon die Schilder: „Borderland“. Wir erreichten die russische Grenze um 12.30 Uhr, nachdem wir an mehreren Kilometern LKW-Schlange vorbeigefahren waren. Nur wenige PKW vor uns. Eine Ampel zeigte an, wenn ein Auto oder LKW in den Grenzkomplex fahren durfte. So langsam wurde es ernst mit unserer allerersten Rußland-Einreise.
Wir kamen schnell an die Reihe. Die lettischen Zöllner waren recht ruppig, nahmen ihre Sache aber nicht genau und ließen uns nach der üblichen „Kofferraum-auf-zu“-Einlage weiter fahren. Um 13 Uhr war bei km 396.106 die Ausreise aus der EU erledigt. Wir stellten uns im Niemandsland hinter 10 Autos an, die Grenzsteine wenige Meter vor uns fest im Blick. Wir stellten in der Wartezeit schon einmal die Uhren eine weitere Stunde nach vorn (MESZ+2). Hätte Rußland die Sommerzeit nicht zur Normalzeit erklärt, wäre es noch eine mehr gewesen. In der Schlange trafen wir eine deutschrussische Familie aus Thüringen, mit der wir uns kurz unterhielten.
Zuerst ging es zur Polizei. Wir mußten jeweils eine „Migration Card“ ausfüllen, die während der gesamten Reise aufzubewahren ist. Dann wurden alle Daten fleißig in den Computer getippt und gescannt sowie der Einreisestempel gesetzt. Der Kollege vom Zoll fing uns noch am Polizeischalter ab. Es dauerte ein paar Momente, bis er checkte, daß wir kein Russisch sprachen. Er suchte mir das Zollformular auf Deutsch heraus, das ich ausfüllen sollte. Die leidliche Übersetzung half mir nicht wirklich, weswegen ich erst im dritten Versuch mit seiner Hilfe alles korrekt ausfüllte. Es war jeweils nicht möglich, die fehlerhaften Daten einfach zu korrigieren.
Sein Kollege nahm das Formular, hackte die Daten in den Computer – warum nicht gleich aus meinem Paß und dem Fahrzeugschein? – während Kollege 1 kurz in den Kofferraum schaute. Die Zollerklärung wurde mit einem Sticker samt QR-Code versehen, unterschrieben und mehrfach gestempelt. So nahe lagen hier 19. Jahrhundert und digitales Zeitalter zusammen.
Um 16.15 Uhr russischer Zeit waren wir fertig. Eine halbe Stunde auf lettischer, 2 1/4 Stunden auf russischer. Nun hätten wir fahren können, wäre da nicht eine letzte Schranke gewesen. Neben ihr stand auf einem Schild „You enter paid road.“ „Toll!“, dachten wir im Scherz, „Wenn die Straße schon bezahlt ist, ist ja alles in Ordnung!“. Doch die Schranke wollte nicht aufgehen. Ich ging in das Kabuff links und fragte nach. „Trista rubli!“ sagte die Frau hinter dem Panzerglas. 300 Rubel, wohl die Maut. Ich hatte noch nie von einer Maut in Rußland gehört. Desweiteren hatte ich auch keine Rubel. Ich war schließlich noch nie in Rußland, und zum Geldverbrennen muß ich für gewöhnlich nicht bei meiner Hausbank Fremdwährung kaufen, sondern nehme einfach ein Feuerzeug.
Ich wedelte mit einem 10-Euro-Schein, doch „Ewro njet!“. Erst der Mann rechts neben mir löste die Situation, in dem er die 10 Euro in 400 Rubel wechselte, obwohl sie nur 390 wert gewesen wären. Erst dann ging die Schranke auf und wir konnten in die Weite Rußlands hinaus fahren. Die Tanke direkt am Grenzkomplex ließen wir aus, da die Erfahrung lehrt, daß es an den Grenzen immer am teuersten ist. Die sowjetische Nationalhymne in der Version von 1977 erklang gerade aus den Boxen, als wir 20 Kilometer nach der Grenze einem Schild zum „Dizel“ folgten. Es war mehr ein Bauernhof als eine Tankstelle, aber hier versteckte sich tatsächlich ein zierliches Mädel hinter Panzerglas, um meine 100 Rubel anzunehmen und die Säule freizuschalten. Unfaßbare 3,7 Liter bekam ich dafür. Ein Literpreis von 0,676 EUR /L. Mit der Szenerie drumherum totaler Kulturschock.
An der nächsten Kreuzung in Ostrov fand sich eine brandneue Statoil. Der Sprit war hier bedeutend teurer, aber immerhin nahm man hier VISA, daher tankte ich nur 10 Liter für 290 Rubel (0,729 EUR /L) und wir holten uns am Sberbank-Automaten im Shop noch jeder Bargeld ab. Auf der Landstraße nach Pskov, unserem Tagesziel für heute, waren wir gerade in Gedanken als es direkt vor uns im Gegenverkehr ordentlich krachte, keine 2 Stunden nach der Einreise.
Ein Minivan wollte links abbiegen, blinkte daher und bremste von ca. 80 km/h auf 0 ab um uns passieren zu lassen. Erst als ich nur noch 20-30 Meter von dem stehenden Auto entfernt war bemerkte ich, daß der Lada, der hinter dem Van fuhr, keine Anstalten zum Bremsen machte. Es tat einen riesigen Schlag. Entweder war der Fahrer eingeschlafen oder die Bremsen hatten versagt. Völlig schockiert hielten wir auf dem unbefestigten Streifen rechts. Die Familie aus dem Van konnte sofort schreiend und heulend aussteigen, doch von den drei jungen Russen die auf sie auffuhren war keiner angeschnallt. Ihre Köpfe hingen nach vorne über und bluteten. Die Frontscheibe war gebrochen, Scherben überall.
Sofort, bevor wir irgendetwas machen konnten, kamen alle Händler und Anwohner des Ortes, in den der Van abbiegen wollte, herbeigerannt und wußten sofort, was zu tun ist. Als wenn das täglich passierte, warfen sie die Seitenscheiben des Ladas ein und bogen die Türen auf. Die beiden Vorderen saßen weiter wie tot in der Karre, nur hinten bewegte sich der Dritte, stieg aus und fing an, wie in Trance durch die Gegend und ins nächste Feld zu laufen.
Nach und nach kamen zum Glück auch die Vorderen zu Bewußtsein. Der Fahrer fing an seine Schuhe auszuziehen und sich die Scherben zu zupfen. Man versuchte, sie zu beruhigen, hatte aber wenig Erfolg, da sie total im Schock waren. Erste-Hilfe-Kästen wurden zusammengestellt, es wurde notdürftig verarztet. Jemand hatte schon die Ambulanz gerufen. Der leidlich ausgestattete Krankenwagen, den ich mit seiner Sanitätsmamuschka im besten Rentenalter eher im Museum verortet hätte, brauchte gute 20 Minuten. Während dessen versuchten wir ca. 50 mal jemanden aufzutreiben, der Englisch sprach. Vergebens. Wir wollten uns als Zeugen für die Polizei oder die „geschädigte“ Familie anbieten. Es verstand uns aber niemand. Auch das Russisch-Wörterbuch, in dem wir immer wieder auf die Übersetzung von „Zeuge“ und dann auf uns deuteten, half nicht weiter. Nachdem uns auch beim Weg zurück zu unserem Auto niemand weiter beachtete und wir davon ausgehen konnten, daß alles Nötige getan wird, fuhren wir weiter. Die Polizei sahen wir auch bei der Weiterfahrt nicht kommen.
Ein schnelles Bild aus der Hüfte, bevor wir weiterfuhren
Es folgte eine EWRO-Tanke, wo wir den billigsten Diesel der Fahrt tanken konnten
Für umgerechnet 0,64 EUR /L füllte ich den Tank bis zur Halskrause
Kurz darauf erreichten wir Pskov. Dort war gerade Volksfest. Entweder ziehen wir sie magisch an, oder man feiert halt gern dort, wo wir hinfahren. Wir stellten das Auto ab und aßen unser erstes Schaschlik zu Abend. Die Sonne stand noch so hoch am Himmel, daß es uns gerade einmal wie früher Nachmittag vorkam.
Pskov. Stadttag 2012.
Auch Wladimir ließ sich den Stadttag nicht entgehen
Finde den Fehler!
Anschließend fuhren wir weiter in Richtung St. Petersburg, unserem ersten großen Ziel. Bis dahin waren es noch 300 Kilometer und Dunkelheit konnte frühestens gegen Mitternacht erwartet werden.
Das ist Aero. Das ist Gut!
Russki Standard
Ich hatte mir im Internet einen Campingplatz bei St. Petersburg rausgesucht und mir das Luftbild von Google Maps ausgedruckt. Doch das half nicht, an der angegebenen Position fand sich nur ein grünes Stahltor. Durch einen Spalt konnte man eine riesige Betonfläche sehen und von innen bellte ein Hund. Das war nicht einladend, auch wenn man hier vielleicht hätte zelten können und dürfen. Wir verbrachten die kurze „Nacht“ daher lieber an einer versteckten Stelle im Industriegebiet. Wurde eh bald wieder hell und dann wollten wir uns die Stadt ansehen.
2.15 Uhr