9. August 2009: Kirkenes – Runway auf der E75

Nach dem Aufstehen und der Morgentoilette entschlossen wir uns zu einer Stadtbegehung in Kirkenes. Dort angekommen stellten wir fest, daß der Reiseführer recht hatte. Dort stand geschrieben: „Kirkenes. Ein einsamer Erzhafen, den man nicht gesehen haben muß.“.

Der Tag des Abschieds. Es beginnt mit einem gemeinsamen Ausflug in das nahelelegene Kirkenes, eine kleine Stadt an der russisch-norwegischen Grenze. Hier scheinen viele Russen zu leben, zumindest die kyrillischen Schriftzeichen deuten darauf hin. Der einzige Reiz an diesem Ort liegt in seinem geographischen Standpunkt. In der Stadt selbst gibt es so gut wie nichts zu sehen, ein kleiner zentraler Platz mit Statue, ein Hafen, ein paar Geschäfte und ein kleiner Kiosk/Supermarkt, der auch am heutigen Sonntag geöffnet hat und mit einem erbärmlichen Sortiment ausgestattet ist. Keks bekam keinen Hamburger, weil es keine Brötchen mehr gab. Für die Hot Dogs fehlten die Würstchen. Die Mangelwirtschaft sollte wohl eine Art Huldigung an die Vergangenheit des großen Nachbarn sein ...

Ich einigte mich dann mit der Verkäuferin auf zwei Stücke der unter der Glastheke liegenden Pizza und war froh, daß wenigstens diese vorhanden und zu verkaufen war. Nachdem wir auch den Hafen und die unzähligen verrottenden russischen Schiffe, die ununterbrochen den Motor laufen hatten – da erzähle mir einer noch was vom Umweltschutz – gesehen hatten, fuhren wir zum Campingplatz zurück. Als Vorbereitung auf die Fahrt nach Grense Jakobselv entfernte ich alle für die Fahrt unnötigen Gegenstände aus dem Kofferraum und von der Rückbank und warf sie in's Zelt. Ich wußte nämlich schon aus der Lektüre anderer Reiseberichte, daß irgendwann die Straße aufhört und eine Schotterpiste weiterführt, da wollte ich mal nichts riskieren.

Etappe: 112 km (hin und zurück)

Während Toby und Anke auf dem Campingplatz blieben, fuhren Taylan und ich nun nach Grense Jakobselv (dt.: Grenze Jakobsfluß), um wenigstens einmal Rußland gesehen zu haben, wenn auch nur über den Grenzfluß. Die Fahrt nach Rußland selbst konnten wir mangels Visa – Taylans Zusage war dafür zu kurzfristig – nicht mitmachen.

Nach der Besichtigung der wohl deprimierendsten Ortschaft nördlich des Äquators machten Keks und ich uns auf den Weg nach Grense Jabobselv, den russisch-norwegischen Grenzfluss. Ein absoluter Pflichtteil der Reise, auf den wir beide uns schon im Vorfeld gefreut hatten. Damit die Russland-Euphorie während der Fahrt entlang des Flusses auch voll und ganz zur Geltung kommt, erklang natürlich die russische Nationalhymne aus den Lautsprechern.

Grense Jakobselv ist ein ehemaliger Fischerort, der im äußersten Nordosten Norwegens liegt. Eine ungefähr 50 km lange Straße führt von Kirkenes dorthin. Die Straße endet an der Barentssee. Auf dem Weg dorthin fährt man ein gutes Stück direkt am Grenzfluß zwischen Norwegen und Rußland entlang. Man steht am gelben norwegischen Grenzpfahl, blickt 2 Meter die Böschung runter, über den 5 Meter breiten Fluß und sieht dann den rot-grünen russischen Grenzpfahl. In der tiefsten Stelle des Flusses verläuft die Grenze.

Storskog. Der einzige offizielle Grenzübergang zwischen Norwegen und Rußland.
Während des Kalten Krieges war dies der einzige direkte Grenzübergang zwischen NATO und Sowjetunion und wurde dementsprechend bewacht.

In der Vergrößerung gut zu erkennen: Norwegischer und russischer Grenzpfahl.

Wieder ein russischer Grenzpfahl, diesmal etwas weiter nördlich.

Hier die Grenze zu passieren, ist vermutlich der sichere Weg in ein russisches Gefängnis.

Ein lieblicher Schotterweg auf den letzten Kilometer nach Grense Jakobselv

Immerhin ein Ortsschild gibt es hier.

Die „Grensevakt“ ist wohl gekentert.

Der Ort selbst war von beeindruckender Abgeschiedenheit geprägt. Der Strand und die umliegenden Felsen waren wirklich nett anzusehen und ich ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt, um ein paar der schönsten Fotos der gesamten Reise zu knipsen. Erstaunlich, aber fast schon symptomatisch war die Tatsache, dass die einzigen anwesenden Fahrzeuge aus Deutschland kamen. Irgendwie machte es keinen Spaß mehr sich darüber aufzuregen. Wahrscheinlich würde man diese Art von Touristenvolk auch auf dem Mars antreffen, während sie gerade aus dem Wohnwagen steigen und sich über den Kohlenstoffdioxid-Gehalt in der Luft beschweren.

Ich unternahm den waghalsigen Versuch, außerhalb Deutschlands als Deutscher Kontakt zu Deutschen aufzunehmen. Die Wohnwagen waren voller Aufkleber aus ganz Norwegen. Es erschien mir so, als hätten sie in jedem Kaff angehalten und Aufkleber gekauft. Doch ich wollte nur einen aus Gamvik, also ergriff ich Initiative: „Servus, ihr wart nicht zufällig in Gamvik und habt dort Aufkleber gekauft? Ich suche welche!“, „Was ist Gamvik?“, „Die nördlichste Gemeinde auf dem europäsichen Festland“, „Nee ...“, „Na dann, schönen Tag noch!“, „Tschüß!“. Nirgendwo sind Deutsche sich ferner als im Ausland, habe ich den Eindruck.

Von links nach rechts: Wiesbaden, Bodenseekreis, Landshut, Aschaffenburg.

Ein ehemaliger Pier, der jetzt vom Wasser zerfressen wird.

Der Trip nach Grense Jakobselv dauerte ungefähr vier Stunden. Nach einem letzten gemeinsamen Abend„essen“ – es gab wie gewohnt lediglich Dosenfraß – bauten wir das Zelt ab und trennten wir uns von Toby und Anke. Wir wollten nun nach Trondheim fahren um Teil zwei unserer Reise anzutreten: Die Norwegischen Fjorde. Wir beide waren noch nie zuvor in Norwegen und wollten somit diesen Pflichtteil einmal abhaken. Unsere Route sah vor, über Tornio nach Trondheim zu fahren, dem Navi folgend.

Etappe: 441 km

Einige Kilometer hinter der norwegisch-finnischen Grenze, kurz hinter der Tankstelle, die wir Tags zuvor konsultierten, sprang in der Dämmerung ein Rentier auf die Straße und machte diese damit dicht. Abstand zum Tier waren etwa 30 Meter, die Geschwindigkeit betrug 70-80 km/h. Ich ging voll in die Eisen. Wir bremsten auf das Rentier zu und waren auf Kollisionskurs. Wir wären nicht mehr rechtzeitig zum Stehen gekommen. Ich löste die Bremse also und versuchte, das Ren zu umfahren. Es hatte sich mittlerweile etwas weiter nach rechts begeben und ich sah die Lücke auf der linken Fahrbahnhälfte. Gegenverkehr gab es keinen. Dem Ren waren wir nun ausgewichen, doch brach nun das Heck aus. Nun mußte ich zwei oder drei Mal gegensteuern, damit wir nicht in den Graben abflogen. Es ging. Wir standen nun mitten auf der Landstraße und sahen hinter uns mindestens zwei Millimeter Reifenprofil in der Luft. Es stank nach Gummi. Doch weder Auto noch Insassen trugen einen Schaden davon. Es war verdammt knapp, aber es hat noch gereicht. Wir atmeten einmal fett durch und stellten fest, daß das ganze ziemlich übel hätte ausgehen können.

Dieser Vorfall sensibilisierte uns. Ich drosselte die Geschwindigkeit auf 60 km/h und wir begannen beide, kontinuierlich den Fahrbahnrand abzusuchen. Das Adrenalin schoß nur so durch uns. Hinter jeder Kurve könnte ein Tier lauern und wenn es nicht auf der Straße steht könnte es uns jederzeit vor das Auto laufen. So krochen wir durch die ewige Dämmerung die finnische Landstraße entlang. Mutigere Zeitgenossen überholten uns hin und wieder.

In Inari erkannten wir den Supermarkt wieder, an dem wir vor ein paar Tagen eingekauft hatten. Aus Spaß warf ich die Frage in den Raum, ob unser Kanister eventuell noch da war. Und tatsächlich: Es hatte ihn keiner mitgenommen und die Müllabfuhr schien auch nicht da gewesen zu sein. Schöner Zufall. Da wieder Kapazitäten im Auto frei waren wurde der Kanister wieder mitgenommen.

Wir hangelten uns mit unserem Tempo von Ortschaft zu Ortschaft, wobei das durchaus mal 100 km Wald sein konnten. Falls uns ein Auto überholte, versuchte ich mich im Kolonnenfahren. An einer Tankstelle hielt ich an. Ich füllte Tank und Kanister mit günstigem Kraftstoff auf. Als wir auch Sodankylä hinter uns gelassen hatten beschlossen wir, bis zur Runway, an der wir schon einmal genächtigt hatten, zu fahren. Als wir sie erreicht hatten stellten wir uns auf denselben Platz, klappten die Lehnen nach hinten und pennten. Es war schon fünf Uhr morgens.

Es folgte die Rückkehr zum Campingplatz, der Abschied von Anke und Toby und die Weiterfahrt nach Süden. Wir stellten uns auf eine geruhsame Fahrt durch das nordfinnische Nichts ein, ohne damit zu rechnen, dass uns bei fortgeschrittenem Abend und entsprechend schlechten Lichtverhältnissen ein völlig hirnverbranntes Rentier vor die Linse laufen würde, anscheinend nur darauf wartend, von einem riesigen Haufen Blech in die Luft geschleudert zu werden. Dank Keks' Bremskünsten konnten wir dem Scheißvieh noch ausweichen, ohne irgendwelche materiellen oder körperlichen Schäden davon zu tragen, wenngleich der Vorfall uns doch beiden einen riesigen Schrecken einjagte und wir in der Folge nur noch „im Gänsemarsch“ vorankamen mit ständigem und peniblem Blick zum Straßenrand wo die nächste Gefahr durch irgendwelche selbstmordgefährdeten Tiere lauern konnte. Nun war es mir ganz recht, dass diese Viecher zerkleinert und in Dosen gepresst werden. Davor hatte ich noch einen Fünkchen Mitleid.

Da wir die selbe Strecke fuhren wie auf der Hinfahrt, kamen wir auch an einer Ortschaft vorbei, wo wir wenige Tage zuvor einen leeren Kanister hinterließen. Erstaunlicherweise lag derselbe immer noch unberührt an der selben Stelle. Diese Gelegenheit wurde genutzt um ihn wieder einzupacken. Die Fahrt endete in den frühen Morgenstunden auf der altbekannten Landebahn nach dem obligatorischen Schlafgut-Bier.

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